Virtuelle Reisen

Virtuelle Reisen

©Usch Kiausch, 2005  
Foto & Verfremdung: Kurt Wiessner, 2005

Foto & Verfremdung: Kurt Wiessner, 2005

Das Reisen: Gelegenheit, unterschiedlichste Identitäten anzunehmen, aus Abenteuerlust, als Kompensation, als Therapie – was auch immer. Als bester Schutz vor nicht willkommener Anmache hat sich für mich die Rolle der streng katholischen Hausfrau mit mindestens sechs Kindern, fünf kleinen Enkeln und missionarischem (Anti-Abtreibungs-)Eifer erwiesen.

Bester Schutz gegen unerbetene Lebensbeichten der Zugnachbarn ist die Nervosität der frisch aus der geschlossenen Psychiatrie entlassenen Paranoikerin, es sei denn, das Gegenüber entpuppt sich beispielsweise als protestantischer Landpfarrer aus Westrauderfehn/ Ostfriesland. Denn manchmal gipfelt eine länger währende Zugreise auch darin, dass einer dieser fiktiven Personen das Angebot auf Rettung/Begleitung bei Behördengängen/ Beistand/ Beischlaf/ ein komplett neues Leben unterbreitet wird. Wie damals, auf der langen Reise nach Sofia …

Behind and Beyond

For Brian

We drank Slivovitz against the cold while
the train passed borders and barren fields and
talked of Kafka, Perutz, Prague and Marienbad.
I guess we´d met before
For I remembered my life in Serdica,
visits to his grandmother and her chicken coop
hot binges with his artist friends
our wedding in that sinister town hall
love-making in his whitewashed room
where we watched cheep pornos
I´d brought from Frankfurt.
We´d spent a full life, together,
by the time we reached Sofia
and promised to meet again
next year, perhaps, in Marienbad.                                                                  

Italienisches Mosaik

Lucia

In jenem Zug zwischen Neapel und Mailand improvisierten wir Wärme. Notgedrungen, denn die Heizung war ausgefallen und es war ein bitterkalter Dezember. Wegen all dieser Streitereien mit B., die noch auf dem Bahnhof von Neapel andauerten, hätte ich den Zug beinahe verpasst. Entnervt hastete ich ins erstbeste Abteil – und wurde angesichts meiner aufgelösten Mähne und Miene mit lautem Gelächter begrüßt. Erbost musterte ich die beiden Typen neben mir, lachte dann aber selbst mit, weil sie ein komisches Paar abgaben: Über rotbackigen, breitflächigen Gesichtern waren ihre Schädel nach internationaler Militärfacon kurz geschoren, über den bunt zusammengewürfelten Klamotten trugen sie dicke Felljacken, aus denen in Gürtelhöhe zwei Hundeschnauzen herausragten. Es sah so aus, als hätten sich zwei kleine Wölfe Schafspelze übergestreift.

Ihr Lachen fiel mir als Erstes auf, denn es kam in Kaskaden und endete mit einem Schluckauf. Dazwischen deutete sie keuchend auf sich : „Lucia, aus dem Land des Lichts.“ Unglaublich, dass aus diesem schmalen Körper solche Salven dröhnten. Und dass unter dieser Madonnenstirn, umrahmt von langen schwarzen Haaren, ein derart sinnlicher Mund grinste. „Und das hier“, brachte sie schließlich hervor, „sind die Brüder Franco und Antonio aus Monreale. Die Schnauzen gehören zu Gari und Baldi.“

Leise jaulend plumpste das Duo Gari-Baldi aus der Wärme der Jacken auf den kalten Boden, als Franco und Antonio aufstanden, um einen schweren Schrankkoffer von der Gepäckablage auf die Sitze zu hieven. Während Franco den Koffer aufschnappen ließ und darin herumkramte, begann mein leerer Magen laut zu knurren, ein Knurren, das noch lauter wurde, als ich den Kofferinhalt sah: eine riesige Schinkenkeule, ein Fünfliterkanister mit Rotwein, zwei lange Stangen Weißbrot, zwei Gläser, ein scharfes Messer, Leinenservietten. Daneben ein Zettel, auf dem mit eckiger Schrift ein einziger Satz gekritztelt war: LASST ES EUCH SCHMECKEN! MAMA. Vom Zettel fast verdeckt: die signierte Fotografie eines jungen Mädchens.

Die Hunde sabberten und versuchten immer wieder, am Koffer hochzuspringen, reichten mit den kurzen Beinen aber nicht heran. Während Antonio großzügig von Brot und Schinken abschnitt und Franco die Scheiben an uns weiterreichte, wanderte Lucias Blick zwischen dem Koffer und den Brüdern hin und her. Sie füllten die Gläser, ließen sie kreisen, bedienten sich auch selbst an Brot und Schinken. „Alles hausgemacht“, war der einzige Kommentar, zu dem sich Antonio hinreißen ließ. „Von unserem Hof.“ Zufrieden kauten wir alle sechs, denn natürlich hatten auch Gari-Baldis Bettelaugen ihr Ziel erreicht. Den Schrankkoffer als provisorischen Tisch zwischen uns gestemmt, genossen wir andächtig das Festmahl, bis Lucia schließlich bemerkte: „Kommt, wir wollen ein bisschen reden. Jeder von euch hat eine Frage bei mir frei. Besser gesagt: eine Antwort. Schließlich lebe ich davon, Fragen zu beantworten. Oder auch zu stellen. Ihr müsst wissen, ich bin Wahrsagerin. Hab mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun. Und mit den unterschiedlichsten Problemen und Sorgen. Eine Frage also – die Frage, die euch am wichtigsten ist.“

Während Franco angestrengt die Stirn runzelte und Antonio ungerührt weiterkaute, beugte sich Lucia plötzlich zu mir hinüber und flüsterte in mein Ohr: „Wetten, dass er nach Maria fragt?“ Verständnislos sah ich sie an und zuckte die Schultern. Antonio kam Franco jedoch zuvor. „Wird sie gesund werden?“, platzte er heraus. Lucia betrachtete nachdenklich den Proviant, die beigelegten Leinenservietten, den Zettel, das Adressenschild am Koffer. „Du wirst deine Mutter bald wiedersehen“, erwiderte sie. „Bei euch zu Hause wird sich alles fügen.“ Und zu Franco gewandt: „Keine Angst, Maria wird auf dich warten. Aber schreib ihr oft, das braucht sie jetzt.“

„Woher wusstest du …“, begann Franco, aber Lucia winkte lächelnd ab. „Berufsgeheimnis.“ Auffordernd blickte sie mich an. „Meine Frage“, sagte ich, „besteht nur darin, dass ich von dir wissen will, was ich dich gern fragen würde.“

Sie musterte mich, mein leichtes Gepäck, die Bücher auf meinem Sitz, die kuliverschmierten Hände. „Du“, sagte sie, „würdest gern fragen, ob du diesen Umbruch in deinem Leben – diesen beruflichen und persönlichen Umbruch – auch verkraftest. Aber indem du mir diese bestimmte Frage gestellt hast, wußtest du selbst auch schon die Antwort.“

Franco und Antonio sahen verwirrt von Lucia zu mir und wieder zu Lucia, hoben schließlich die Gläser und murmelten: „Auf Lucia, die Wahrsagerin.“ „Auf Lucia, die Wahres sagt“, ergänzte ich, „und der auch manches entgeht.“ Zwischen Garis und Baldis Pfoten war mir, während sie am Koffer hochsprangen,  eine zerknitterte Visitenkarte aufgefallen, die ich schnell aufgehoben und an mich genommen hatte. Eine Visitenkarte, die schwarz auf weiß besagte: Dr. Lucia Eco, Psycho- und Verhaltenstherapie, San Felice.

Nachtreise      

Der Teufel muss mich geritten haben, dass ich diesen Zug nach Rom tatsächlich nahm. Aber der Anruf meines alten Freundes hatte dringend geklungen, es schien ihm schlechter zu gehen. Ich erreichte den Vorstadtbahnhof kurz nach Mitternacht. Durch das Schneegestöber hastete ich hinüber zu den verlassenen Bahngleisen, platschte durch  Schneepfützen. Der Uniformierte, der plötzlich aus der Nacht auftauchte, sah mich eindringlich an und murmelte: Ihr Zug fährt heute hier nicht ab, gehen Sie zum hintersten Gleis. Es kann nicht immer alles nach Fahrplan gehen, Sie sehen ja selbst, welche Zeiten wir haben. Wie soll sich da ein Zugführer an den Plan halten.

Auf dem entferntesten Gleis steht der Zug, eine nasse schwarze Raupe. Nur aus wenigen Fenstern dringt fahles Licht. Im Zug sind fast alle Fenster zum Gang hing mit Gardinen verhängt. Ich reiße eine Tür auf und schlage sie gleich wieder zu, weil ich das Liebesspiel der zwei Jugendlichen nicht stören will. Im Nachbarabteil streiten sich zwei Männer, ihre Gesichter sind rot und aufgedunsen und verströmen Schnapsdunst. Aus dem dritten Abteil lächelt mir eine alte Frau entgegen, in sizilianisches Witwenschwarz gehüllt. Ihre wachen blauen Augen stehen in seltsamem Kontrast zum weißen Haar, im Schoß hält sie ein rosa Strickzeug. Was könnte beruhigender sein als das monotone Klappern der Nadeln?

Erschöpft lasse ich mich in die zerschlissenen Sitze fallen, während der Zug auch schon anfährt.

Warum sagt die Alte nichts auf meinen Gruß, warum sieht sie so starr an mir vorbei, warum lächelt sie ununterbrochen? Irritiert greife ich nach meinem Buch und lese:

Eine dringende Reise stand mir bevor, ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe. Und später: Zur Mauer, an die Seite der Wunde legen sie mich. Dann gehen alle aus der Stube; die Tür wird zugemacht; der Gesang verstummt; Wolken treten vor den Mond; warm liegt das Bettzeug um mich; schattenhaft schwanken die Pferdeköpfe in den Fensterlöchern …

Müdigkeit macht meine Glieder schwer, ich kann sie nicht mehr bewegen, gebe der Schwere nach. Weißt du, raunt es an meinem Ohr, deine Reise wird vergeblich sein, du wirst ihm nicht helfen können. Wir wollen sehen, wie deiner eigenen Wunde beizukommen ist, ich werde sie freilegen und beschneiden.

Schemenhaft nehme ich die alte Frau wahr, wie sie sich über mein Bett beugt, ich will ausweichen, aber da ist die Mauer. Als etwas in ihrer Hand aufblitzt, kralle ich meine Finger in ihren Arm, der nachgibt, denn ihr Fleisch ist alt und schwammig. Das Instrument klirrt auf den Boden. Ich will um Hilfe schreien, aber mein Mund öffnet und schließt sich wie ein Fischmaul, kein Ton dringt heraus. Ich bin ein Fisch, ich schwimme durch trübes Wasser, ich muss an die Oberfläche.

Ich tauche auf. Das Abteil dreht sich um mich, kommt schließlich zum Stillstand. Ich bin allein und atme tief durch, nur nicht der Panik nachgeben. Auf dem Boden blitzen Stricknadeln, daneben türmt sich ein Chaos aus Jeans, Pullovern, Unterwäsche, Schreibutensilien – der gesamte Inhalt meiner Tasche, bis auf ein paar Kleinigkeiten wie Kreditkarten, Bargeld und Schmuck.

Auf dem trübe beleuchteten Gang tritt mir der Uniformierte entgegen, dem ich meinen Verlust sogleich melde.

Ich hatte Sie doch gewarnt, es geht nicht alles nach Plan in diesen Zeiten, sagt er. Ich kann Ihnen auch nicht helfen, vielleicht haben Sie den Besuch der alten Dame auch nur für sich erfunden, da sie mir gänzlich unbekannt ist.

Ja, einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen. Gleich sind Sie am Ziel, sagt der Uniformierte, hier müssen Sie aussteigen. Er reißt die Tür auf und mir schlägt  bittere Kälte entgegen.

Als ich zurückschaue, scheint mir die alte Frau neben dem Uniformierten am Fenster zu stehen. Ja, sie lächelt. Aber dann legt sich ein Wirbel von Schneeflocken zwischen mich und den abfahrenden Zug und lässt ihre Konturen hinter der Scheibe verschwimmen.

Kolportage in Schwarz-Weiß

Als wir damals in dieses Bergdörfchen zwischen Rom und Neapel gerieten, war die Zitronenernte gerade eingebracht, wir landeten mitten in einem rauschenden Fest. Und in dem langen, weißen Kleid, das ich auf irgendeiner verlassenen Wäscheleine vor unserer Hütte gefunden hatte, tanzte ich die ganze Nacht mit dem Zigeunerkönig, dem Herrscher über die Zitronenplantagen. Schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Stiefel, schwarze Mähne. Tango. Es fehlte zum Werbespot nur noch die Rose zwischen den Zähnen. Auch das jähe Ende dieser Romanze ist in Schwarz getaucht. Am Spätnachmittag des folgenden Tages rollt ein klappriger LKW vor unserer Hütte vor, hoch beladen mit Zitronenkisten. Der Typ, der absteigt und zwei Kisten vor dem Eingang abstellt, sieht verknittert, verkatert, verlebt und irgendwie vertraut aus. „Ciao Bella“ zischt er zwischen schwarz verstockten Zähnen hervor, „und danke für gestern.“ Erst da fällt mir auf, dass wir beim schwarz-weißen Paartanz offenbar ganz ohne Worte ausgekommen sind.